Eröffnungsrede von Claas Danielsen
DOKLeipzig director for 10 years Claas Danielsen made, as he always does, a welcome speech that went far beyond the usual thanks to sponsors and audience and guests. I have taken a couple of sequences from his German language speech:
Eine der wichtigsten Eigenschaften guter Dokumentarfilme ist, dass sie uns Angst nehmen. Sie helfen uns, das Schreckliche in der Welt anzuerkennen und es an uns heranzulassen – manchmal ubrigens auch das unfassbar Schöne, das wir genauso wegschieben, wenn wir fürchten, es zu verlieren.
Denn die Dokumentaristen widmen sich oft dem Schicksal einzelner Menschen – aufrichtig, wahrhaftig und mit Geduld. Mit diesen Protagonisten können wir uns als Zuschauer verbinden. Wer die syrische Familie in Reem Karsslis Film begleitet hat, für den haben die unter dem Bürgerkrieg leidenden Menschen ein Gesicht bekommen.
Und wer die iranischen Jugendlichen in Kaveh Bakhtiaris Film „Stop-Over“ dabei beobachtet, wie sie verzweifelt und oft unter Todesgefahr versuchen, in den Westen Europas zu gelangen, wird bei den Bildern von Migranten an den hochgesicherten Außengrenzen Europas nicht mehr gleichgültig wegschauen können.
Gute Dokumentarfilme informieren nicht, sie verändern uns. Dokumentarfilme machen das Verdrängte empfindbar. Aus der abstrakten Bedrohung und undefinierbaren Angst wird ein konkretes Schicksal und damit ein Gefühl, das uns nicht mehr überfordert. Das Verdrängte wird „verständlich“, also für unseren Verstand greifbar. Dadurch öffnet sich eine Tür, ein neuer Weg wird sichtbar, heraus aus der Lähmung, hinein in das aktive Handeln. Auch auf
psychischer Ebene kann so Heilung geschehen. Das ist die einzigartige Kraft des Dokumentarfilms, er wirkt dem Verdrängen entgegen und öffnet unser Herz und unseren Geist.
Das, was sich dann zeigt, mag oft verwirrend und komplex sein. Denn die Welt und die Zeit, in der wir leben, sind vielschichtig, unübersichtlich und ständig in Bewegung.
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Warum hat es der erzählerische, künstlerische Dokumentarfilm dann jenseits der Filmfestivals so schwer? Warum erkennen nur noch so wenige Entscheidungsträger in den Fernsehanstalten, wie gut sie diesen Schatz nutzen könnten. Anstatt dessen schieben sie ihn oft ins programmliche Abseits, dörren ihn finanziell aus oder wickeln ihn ganz ab. Und das in Zeiten, in denen Kritiker das öffentlichrechtliche System grundsätzlich in Frage stellen. Am Geld kann es angesichts der günstigen Minutenpreise und der langen Lebensdauer der Dokumentarfilme nicht liegen. Es fehlt an Mut und Wertschätzung.
Ich frage mich: Hat die kompromisslose Suche der Dokumentarfilmer nach Wahrhaftigkeit etwas Bedrohliches? Sind Leidenschaft und Idealismus dem Zuschauer nicht mehr zuzumuten? Ist das Ringen um eine moralische Haltung in einer Zeit der Umbrüche unseriös? Ist der Kampf um Würde, Respekt und Menschlichkeit aus der Mode gekommen? Was verdrängen all jene, die diese Art von unformatierten und unbequemen Filmen nicht mehr zeigen wollen? Warum ziehen es viele aufrechte, couragierte und unbequeme Redakteure vor, die Funkhäuser zu verlassen, anstatt weiter für ihre Sendeplätze und Individualität im Programm zu kämpfen?